Weinnasen-Geschichten aus 2005

Wieviel Zeit bleibt?


02.11.2005

Tach aber auch!

Irgendwann stand sie da. Ohne telefonische Anmeldung. Ohne vorherige Terminvereinbarung. leicht alkoholisiert - wir mir unsere damalige Kanzlei-Sekretärin nachher erzählte - und trotzig. Nein, nein, sie wollte nicht sagen, warum sie mich in der Kanzlei sprechen wollte. Nur mich, wollte sie sprechen. Niemand anderen!
Ohne den Grund/Anlaß ihres Begehrs mitzuteilen... dies könne sie nur mir sagen, wurde mir vom genervten Sekreteriat unserer Kanzlei mitgeteilt. Nun schon den 4-ten Tag versuchte sie, mich zu sprechen.

Zugegeben, damals hatte ich's schwer. Kaum Freizeit oder geregelt Arbeitszeit noch eine Sekunde frei in einem "direkten" Terminkalender. Schwer, mich zu solchen unangemeldeten, unangenehmen Besuchern zu bringen. Doch unserer "Sekretärin Nr. 1" hatte ein "großes Herz" und meinte Schmerz in den Augen der fahrig wirkenden Frau gesehen zu haben. Mir tat's auch nitt behagen, als versichert wurde, diese seltsame Frau hätte Geld dabei, um (m)ein Honorar zu bezahlen.
Obwohl wir schon seinerzeit nitt als "Billiger Jakob" in der Branche galten und i.d.R. nur Unternehmen, Betriebe, Firmen und deren Chef's taten beraten. Allenfalls noch gutverdienenden Freiberufler und Selbständige. Und zu dieser Klienten-Gruppe schien diese seltsame "Besucherin" nun nitt grad zu zählen.

Vom Sekretariat mit Kaffee, Keksen und Mineralwasser sowie "Gauloises" versorgt, ging ich unwirsch in's "kleine Besprechungszimmer". Holzgetäfelte, barocke "Ehrfürchtigkeit", mit Kunst und teuren Teppichen, Kristall und Silber als gediegenem Stil unserer Kanzlei, ausgestattet. Dort saß sie, ärmlich gekleidet und behauptete ungefragt... "ich kann sie bezahlen". Hielt mir einen zerknitert-schmuddeligen 100 Markschein hin und wollte sich nitt setzen!
"Sie sollen der Einzige sein, der mit helfen kann", mit diesem Satz fing sie an "ihre Geschichte" zu erzählen und mir zu erklären, warum ich denn der Einzige sein sollte, der ihr helfen könnte.

Heute, wenn ich mich mal an mein "anderes" Leben, so vor Jahren, erinnere, dann bin ich froh, der verworren klingenden Geschichte bis zum Ende zugehört und für die verstörte Frau Zeit gehabt zu haben. Obwohl... sie mit dem "Hunni" mir noch nitt mal eine Stunde der kostbaren Zeit "Arbeitszeit" bezahlen hätte können!

Ich darf über die Mandantin und ihren "Fall" nitt sprechen ohne Gesetze und Standesrichtlinien zu brechen. Wäre auch nitt so wesentlich, ihre Geschichte, voll von Verzweiflung und schierer Angst und Nöte, hier zu lesen. Nein... ich hatte "regelwidrig" einen Termin "eingeschoben", nachfolende Termine mühsam verschoben und für unsere Kanzlei sehr wichtige Mandanten damit vergrätzt/verärgert!

Trotzdem bin ich bis heute froh, diesen Termin mit der seltsamen, ärmlich wirkenden Frau angenommen, mir Zeit für einen verzweifelt wirkenden Menschen hab' "einfach" genommen.
Zum Schluß kommend möchte ich noch erwähnen, daß die Frau später getötet wurde und ich ihr nur wenig Zeit und wenig Freude/Erleichterung, in dieser knappen Zeitspanne, hatte "verschaffen" können. Mehr habe ich in der kurzen Zeit der Mandantschafts-Beziehung nitt für sie tun können!

Aber "ein wenig Zeit" habe ich für sie gehabt und ihr später den liegenden Hunderter wieder zugesteckt!
Als sie sich nach 2, 3 Stunden verabschiedete, sagte sie, dankbar... "für mich hat noch keiner soviel Zeit gehabt". Und dabei fing sie leise zu weinen an und... ging!

Später konnte man(n) in den Medien lesen, daß sie, geschunden und erschlagen, in den frühen Morgenstunden aufgefunden wurde. Aufgrund meiner Visitenkarte, ich ich ihr mitgegeben hatte, bekam ich damals "überraschenden Besuch" der Polizei, der ich aber nix aussagen wollte, weil ich' ihr, der leicht trunkenen Frau, versprochen hatte: Über Alles und gegenüber Jedem - auch über ihren Tod hinaus - zu schweigen (ihrer Kinder wegen...!)!

Zeit haben, auch wenn's mal scheint's nitt passt, für einen Menschen... dies habe ich -Gott-sei-Dank- gehabt und sie "befreien" können, aus ihrer vermeintlichen Schuld. Ihr ein paar Sorgen abzunehmen "ohne mich weit aus dem Fenster zu lehnen"!
Etwas Freude und... Beruhigung zu geben. Denn dies war wohl der Zeitraum, den sie "freier" erleben konnte!
Etwas Zeit! Solch große Wirkung und dafür bei mir innere Zufriedenheit, den Menschen anthroposophisch wahrzunehmen. Dies blieb nach diesem seltsamen Besuch, stets mein Versuch, mit Menschen umzugehen: Zuhören und Zeit haben. Dies hab' ich damals gelernt, ist ein seltenes Geschenk und wirkt auf den Schenkenden so befriedigend, etwas gemeinsam, quasi intim, mich auf/mit einen Menschen in Angst und Not ohne Zeitdruck eingelassen zu haben.
ZEIT gehabt zu haben!

Heute ich auch ich froh, wenn mal ein Besucher Zeit, und bloß keine Sorgen, mitbringt. Zu essen und trinken und Zeit hab ich doch immer. Weil ich eine olle Weinnase geworden bin, und mich an "alte Zeiten", seltsame Begegnungen, erinnere und Zeit genug - mehr als mir oft lieb ist - allein verbringe! Oft im Krankenbett und als krüppeliger, ungeduldiger Mensch, der leidet!
Gar selten hat man mich seit dem Besuch der "seltsamen Dame" sagen hören... "hab leider keine Zeit dafür"... einen Menschen!
Seither war ich stets bemüht, immer eine Lösung, etwas Zeit, zu finden oder mich zu einem "open-end"-Gespräch in Bälde zu verabreden!

Ja, datt war so 'ne hoch-komplizierte Geschichte, damals, als ich noch keine Zeit hatte und... eine Erinnerung aus "alten Zeiten". Mehr ist nitt geblieben!
Heute leb' ich in der "Zeit der Erinnerungen". Viel Sprüche alter Freunde sind verklungen, aber die Jungen, die finden ab-und-an mal Zeit - sogar stundenlang- bei mir im "ZauberGarten" abzuhängen und zuzuhören, wenn ich komische Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzähl' und Wein anbiete, Essen serviere und mich auf vieles Neue einlassen muß. Für ein gewisses Verständnis füreinander muß man halt Zeit und Geduld haben.

Ja, nun ist's spät geworden, meine Schlafenszeit ist im behaglichen kl. Hexenhäus'chen angefangen... also... bis bald oder morgen!

Eure olle Weinnase,
bald wieder mit Zeit "on the road again"!
Dem "Reinen Wein" verpflichtet hab ich >so< berichtet, watt mir in all der Zeit so vorgekommen ist!


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